Geflohene ukrainische Forscher: “Eine Chance für beide Seiten”

Stand: 01.01.2023 09:06 Uhr

Hunderte Wissenschaftler sind unter den Kriegsflüchtlingen in der Ukraine. In Deutschland suchen sie Schutz – und treiben gleichzeitig die Forschung voran.

Von Alexander Steininger, tagesschau.de

Als der Krieg begann, dachte Mariia Nesterkina noch, dass es nicht schlimm werden würde. Dass sie mit ihrer Familie und ihren Freunden in Odessa sein kann. Aber als immer mehr russische Raketen die Ukraine trafen, wussten die Forscher, dass sie keine andere Wahl hatte, als zu gehen: „Ich habe meinen Job an einer internationalen medizinischen Hochschule verloren. ”

Glasscherben auf einem Tisch in einem Raum an einer Universität in Charkiw.  |  Fotoallianz / AA

Krieg und die Folgen der Wissenschaft

In einer Miniserie wollen wir die Folgen des Krieges in der Ukraine für die Wissenschaftslandschaft beleuchten. Der erste Teil handelt von der Ukraine, wo viele Universitätsgebäude beschädigt wurden, die Finanzierung ungewiss ist und viele Studenten und Forscher vor dem Kampf fliehen. Im zweiten Teil betrachten wir Deutschland, das Hauptziel ukrainischer Flüchtlinge, und die Frage, wie sie hier in das Forschungssystem integriert werden können – und wie dies später auch beim Wiederaufbau der Ukraine helfen kann. Und schließlich geht es um Russland, das unter Sanktionen leidet, aber gleichzeitig die Repression verschärft.

Der 30-Jährige konnte weniger als zwei Wochen nach Kriegsbeginn fliehen 5. März 2022 nach Stuttgart, wo sie bei Bekannten übernachtete – und sich sofort auf die Suche nach einer Universität machte, um ihre Forschungen fortzusetzen. Trotz seines jungen Alters ist der Apotheker in der internationalen Scientific Community gut vernetzt und hat Angebote von Universitäten in Portugal und der Türkei. Doch sie entschied sich, in Deutschland zu bleiben – und landete am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS). „Die Forschung in Deutschland ist auf höchstem Niveau und ich kann mir aussuchen, wo ich in Odessa aufhöre“, sagte Nesterkina.

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Forschung an neuen Medikamenten

In Saarbrücken forscht sie an neuen Wirkstoffen gegen Krankheitserreger wie Bakterien, Parasiten oder Viren. Sie untersucht zum Beispiel, ob Wirkstoffe besser an ihren Bestimmungsort im Körper transportiert werden können oder Proteine ​​in Krankheitserregern potenzielle Angriffspunkte für neue Medikamente sein können. Sie brachte einige Forschungsprojekte aus ihrem Land mit nach Saarbrücken. HIPS-Abteilungsleiterin Anna Hirsch schwärmt: „Es ist toll, dass Mariia den Weg in unser Projekt und unser Team gefunden hat – für uns ist sie ein echter Glücksfall.“

Nesterkina hat an mehreren Publikationen mitgewirkt, die Institution bei internationalen Treffen vertreten und versucht, Fördergelder für ihr eigenes Projekt zu beantragen. Bei einem Expertentreffen in Dublin sei sie für die beste Präsentation ausgezeichnet worden, berichtet Hirsch. „Anfangs war der Hilfsgedanke das Wichtigste – wir konnten uns nicht vorstellen, dass es gut wird“, sagt die Lehrerin, die selbst auch ukrainische Flüchtlinge für einige Wochen bei sich zu Hause aufnimmt.

Deutschland ist das Hauptzielland für ukrainische Forscher

Nesterkinas Schicksal ist ein Beispiel für Hunderte anderer Wissenschaftler aus der Ukraine – allein drei ukrainische Flüchtlinge forschen derzeit am HIPS. Genaue Zahlen sind schwer zu erheben, da die Einreise nach Deutschland ohne Visum möglich ist und die berufliche Stellung des Flüchtlings nicht erfasst wird. Doch laut Neurophysiologin Olga Garaschuk sind etwa 13 Prozent der etwa 80.000 akademischen Forscher aus dem Land geflohen. Garaschuk selbst ist seit 2008 Professor in Tübingen und Präsident der Deutsch-Ukrainischen Gelehrtenvereinigung.

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Laut ihrer Umfrage setzten 27 Prozent der nach Deutschland geflohenen Forscher um, gefolgt von Polen. Das entspricht fast 300 Wissenschaftlern, die in den vergangenen 10 Monaten nach Deutschland geflüchtet sind.

Aber ist ihre Integration in die deutsche Forschungslandschaft immer so erfolgreich wie Nesterkina? Haben Akademiker die Möglichkeit, ihre Expertise einzubringen – und sind genügend finanzielle Mittel vorhanden, um sie alle einzustellen?

Nesterkina erforscht am HIPS neue Wirkstoffe in der Medizin.

Foto: Helmholtz-Institut Saarland

Viel Ausrüstung

Fast alle großen Forschungseinrichtungen haben eigene Hilfsprogramme für ukrainische Flüchtlinge eingerichtet: Max-Planck-Institute, Helmholtz-Gesellschaft, Deutsche Forschungsgemeinschaft. Auch der Bundestag hat Millionen Euro für ukrainische Studenten und Wissenschaftler bereitgestellt – Stichwort „Wissenschaftsdiplomatie“.

Fragt man Forschungsinstitute nach ukrainischen Wissenschaftlern, fällt das Urteil durchweg positiv aus. „Die Ukraine hat ein sehr hohes Bildungsniveau, ukrainische Promotionen zum Beispiel werden in Deutschland anerkannt“, Michael Flacke vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Das erleichtert die Integration. In naturwissenschaftlichen Disziplinen ist die Zusammenarbeit offenbar einfacher als beispielsweise in den Geisteswissenschaften, weil Sprachbarrieren keine große Rolle spielen. Zudem sind ukrainische Universitäten wie die in Kiew oder Lemberg jahrhundertealt und international gut vernetzt.

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Eine win-win Situation

Doch nicht nur die Ukrainer profitieren: Ihre mitgebrachte Expertise hilft auch der deutschen Forschungslandschaft – insbesondere bei Projekten, aber auch bei der Bindung herausragender Forscherinnen und Forscher. So hat allein die Max-Planck-Gesellschaft mindestens 36 Forscher an ihre 16 Institute geholt und ihnen eine Million Euro eingebracht. Insgesamt hat die MPG nun 168 ukrainische Forscherinnen und Forscher in ihren Reihen – doppelt so viele wie Ende März. Auch der Leiter der Forschungsgruppe HIPS Hirsch sprach von der Win-Win-Situation: „Es ist – ohne das Leid von Krieg und Flucht zu vergessen – ein Glücksfall und eine Chance für beide Seiten.“

Sie will Nesterkina eine langfristige Perspektive an der Forschungseinrichtung Saarbrücken bieten. Aufgrund der unberechenbaren politischen Lage hatte sie nur einen befristeten Vertrag. Auch Nesterkina ist darüber verärgert – denn sie will mehr Gewissheit darüber haben, wie es nach dem Frühjahr weitergeht.

Wissenstransfer zur Unterstützung der Rehabilitation

Für sie ist dennoch klar: Sobald es die Situation in Odessa zulässt, will sie in ihre Heimat zurückkehren. „Meine Mutter ist noch da, ich möchte sie wiedersehen und unterstützen. Außerdem möchte ich beim Wiederaufbau meines zerstörten Landes helfen. Sie ist sich sicher, dass ihr auch ihre Erfahrung in Deutschland helfen wird.

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