
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte in seiner “Zeitenwende”-Rede drei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres, Deutschland werde nun – wie von den USA seit langem gefordert – “mehr als zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für unsere Verteidigung beiseite legen jedes Jahr investieren” und auch einen “Sonderfonds” von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr schaffen.
Im August konkretisierte er dann seine Vision von der „Militarisierung“ Europas unter deutscher Führung in Prag. Scholz forderte eine stärkere, “souveränere” Europäische Union, die sich besser verteidigen müsse.
Doch was würde das kaum vorstellbare Engagement Deutschlands vor der „Zeitwende“ in der Praxis bedeuten? Wenn die Bundesrepublik eine führende Rolle bei der militärischen Stärkung Europas spielen will, muss sie ihre Wirtschaft neu gestalten.
Und die Übernahme eines deutschen Chipherstellers durch ein chinesisches Unternehmen würde nicht zur Umstellung der Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft passen. Ohne Transformation kann Deutschland den Herausforderungen einer geopolitischen Ära nicht begegnen, in der Krieg wieder als allgegenwärtige Bedrohung erscheint. Welche konkreten Transformationsschritte sind möglich?
Erstens sollten Deutschland und die EU eine militärische Forschungs- und Entwicklungsagentur nach dem Vorbild der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) schaffen, die seit Jahrzehnten Hightech-Innovationen fördert. Berlin musste beim Aufbau der europäischen DARPA eine Vorreiterrolle einnehmen, nur so konnte sich die Agentur gegen die technologische Konkurrenz aus den USA und China behaupten.
Deutschland hat bereits kleine Schritte in diese Richtung unternommen. 2019 hat die Bundesregierung beispielsweise die Agentur für disruptive Innovationen geschaffen. Damit sollen bahnbrechende Innovationen finanziert werden. Aber die Agentur ist zu klein und arbeitet im Gegensatz zu DARPA nicht mit dem Militär zusammen. Ihre Fähigkeit, disruptive Entdeckungen zu machen, ist begrenzt.
Würde jedoch eine militärische Forschungseinrichtung auf EU-Ebene geschaffen, sähe die Sache ganz anders aus – allein schon wegen der stärkeren Wirtschaftskraft und des deutlich größeren Pools an Innovatoren.
Die Streitkräfte brachten GPS und Siri in die Welt
Der Verteidigungssektor ist, wie die Beispiele aus den USA und Israel zeigen, ein Innovationstreiber. In beiden Ländern hat uns die vom Militär finanzierte Forschung technologische Innovationen wie das GPS-Satellitennavigationssystem oder den Sprachassistenten Siri als Nebeneffekte gebracht. Aber die Kriegsgefahr in Europa erfordert eine andere Art von Innovation. Daher muss die EU in der Lage sein, ihre eigene hochentwickelte militärische Ausrüstung zu entwickeln.
Um dem Führungsanspruch von Scholz gerecht zu werden, sollte Deutschland auch bei der Entwicklung von Halbleitern eine Vorreiterrolle einnehmen und den Zugang zu strategischen Rohstoffen sicherstellen. Beides ist für die europäische Sicherheit unerlässlich. Staatliche Initiative ist erforderlich.
Die Regierungen der EU-Staaten und die US-Administration sollten besser heute als morgen die Weichen stellen, um selbst genügend Hightech-Chips zu produzieren und strategische Rohstoffe zu fördern. Dann stünde beispielsweise die Produktion von Autos und Maschinen nicht mehr still, wie es zeitweise während der Corona-Pandemie der Fall war, weil die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company die Lieferung einstellte.
Europa muss strategisch unabhängiger werden
Eine solche Weichenstellung erscheint umso dringlicher, als China seine Rhetorik gegen die „abtrünnige Provinz“ Taiwan weiter verschärft und die Kriegsgefahr in der Region zunimmt. Die Volksrepublik kontrolliert auch die Verarbeitung von strategischen Mineralien und Metallen, darunter 80 Prozent der Seltenen Erden der Welt; bei Lithium und Kobalt sind es knapp 60 Prozent. Vor diesem Hintergrund muss Europa wirklich alles tun, um eine größere strategische Autonomie zu erreichen.
Im Erfolgsfall würden die Europäer nicht in die Falle tappen, in der Russland seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine steckt. So hat Moskau in den vergangenen Jahren auf Lieferungen des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall gesetzt, anstatt das russische Militär im Alleingang zu modernisieren. Im Zuge der multilateralen Sanktionen zahlt Präsident Wladimir Putin nun den Preis für dieses Versäumnis.
Russlands technologische Schwäche sollte Deutschland und dem Rest Europas eine Warnung sein. Die europäischen Regierungen müssen nun die öffentlich finanzierte militärische Forschung und Entwicklung stärken und kreative Ideen für die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich entwickeln.
Das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Chipgesetz, wonach bis Ende dieses Jahrzehnts 20 Prozent aller Chips in Europa produziert werden müssen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es muss noch viel mehr getan werden.
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